Aktuelles Heft

 

Inhalt der aktuellen Ausgabe Mai 2023:

Europarechtswidrigkeit des  Konzernprivilegs nach § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG?

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Landessozialgericht Hamburg, Urt. v. 12. Oktober 2022 – L 2 U 43/21 –
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Ausgewählter Artikel der Ausgabe Mai 2023:

Europarechtswidrigkeit des Konzernprivilegs nach § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG?

Das sog. Konzernprivileg (§ 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG) ist ein in der Praxis regelmäßig genutztes Instrumentarium für den flexiblen Personaleinsatz zwischen gem. § 18 AktG verbundenen Unternehmen. Vorteil des Konzernprivilegs ist, dass die Voraussetzungen einer Arbeitnehmerüberlassung zwar technisch erfüllt sind, d.h. der Mitarbeiter der X-GmbH kann bei der verbundenen Y-GmbH weisungsgebunden – wie ein eigener Arbeitnehmer – eingegliedert und dort tätig werden, jedoch sind die wesentlichen Bestimmungen des AÜG nicht einschlägig. Dies gilt u.a. für die Erlaubnispflicht nach § 1 AÜG, die Überlassungshöchstdauer, die Anwendung des Gleichstellungsgrundsatzes usw.

In der Vergangenheit ist insbesondere die Europarechtskonformität von § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG in der Literatur immer wieder in Abrede gestellt worden. Die Behörden, u.a. die Bundesagentur für Arbeit, hat dies mangels Verwerfungskompetenz grundsätzlich nicht interessiert; diese haben die gesetzliche Bestimmung als geltendes Recht angewendet. Die Rechtsprechung hat sich mit § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG bislang nicht vertieft befassen müssen – schon gar nicht höchstrichterlich (vgl. Thür. LAG v. 12.04.2016 – 1 Sa 284/15 Rn. 50, das auf eine europarechtliche Anfälligkeit hinweist und sodann ausdrücklich feststellt, dass die Norm gilt, da sich der Gesetzgeber nicht zu einer Streichung entschlossen hat; s. auch offenlassend: BAG v. 20.01.2015 – 9 AZR 735/13 Rn. 21; LAG Baden-Württemberg v. 11.02.2016 – 3 TaBV 2/14 Rn. 89).

Ob dieser „Zustand“ noch weiter anhält, dürfte mit einem Fragezeichen zu versehen sein, hat sich das LAG Niedersachsen doch jüngst inhaltlich mit § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG auseinandersetzen müssen (Urt. v. 12.01.2023 – 5 Sa 212/22, 5 Sa 213/22).

I. Zusammenfassung der Entscheidung

Die Parteien streiten darüber, ob zwischen ihnen ein Arbeitsverhältnis besteht.

Der Kläger ist bei der X-GmbH und deren Rechtsvorgängerin als Bereitsteller in dem Geschäftsfeld Logistik beschäftigt. Unter dem 31.01.2019 schlossen die X-GmbH und die Beklagte einen Vertrag, der die Überlassung des Klägers von der X-GmbH an die Beklagten bis zum 31.07.2020 zum Gegenstand hatte. Beide Unternehmen sind Konzernunternehmen. Die X-GmbH teilte dem Kläger mit Schreiben vom 31.01.2019 den Einsatz bei der Beklagten mit. Bis zum 26.07.2020 war der Kläger im Betrieb Emden der Beklagten tätig, vom 27.07.2020 bis zum 14.08.2020 fand dort ein Werksurlaub statt.

Es existiert ein mit „Vertrag über die leihweise zur Verfügungstellung von Personal im Rahmen der Konzernleihe“ überschriebenes Schriftstück, nach dem der Einsatz des Klägers bei der Beklagten verlängert wird. Dort heißt es wörtlich: „Dieser Vertrag wird mit dem 01.08.2020 wirksam und läuft bis zum 31.12.2020.“ Der Vertrag ist auf den 30.06.2020 datiert; die Konzernunternehmen unterzeichneten ihn jedoch erst am 25.08./26.08./27.10.2020. Ab dem 31.07.2020 war der Kläger im Betrieb Emden der Beklagten bis ca. Anfang November 2020 tätig.

Der Kläger macht nun geltend, dass ein Arbeitsverhältnis zu der Beklagten bestehe, beginnend ab dem 01.08.2020, hilfsweise ab dem 13.08.2020. Er behauptet, am 23.06. 2020 habe unter Mitwirkung des Vorgesetzten ein Gespräch mit dem Betriebsrat stattgefunden. In diesem Gespräch sei einem Kollegen und ihm mitgeteilt worden, dass eine Übernahme durch die Beklagte nicht möglich sei, aber die zeitlich befristete Konzernleihe entfristet und neu aufgesetzt werde, da sein Kollege und er weiterhin als FTS-Anlagenführer gebraucht würden. Der Kläger vertritt zudem die Auffassung, das Konzernprivileg des AÜG sei europarechtswidrig. Aus diesem Grunde bestehe ein Arbeitsverhältnis zu der Beklagten, da die Höchstüberlassungsgrenze überschritten worden sei. Im Übrigen könne auch einzelfallbezogen – unabhängig von der Problematik des Europarechts – ein Arbeitsverhältnis zu der Beklagten aufgrund der unstreitig erfolgten Eingliederung nach Ablauf der ursprünglichen Vereinbarung begründet werden. Die X-GmbH sei nicht irgendeine Fremdfirma, sondern Teil der unternehmenseigenen Werksorganisation der Beklagten. Die ursprüngliche Eingliederung bei der Beklagten (beginnend ab dem 01.02.2019) sei als Versetzung befristet gewesen, davon sei dann abgewichen worden. Die Weiterbeschäftigung bei der Beklagten sei einem dauerhaften Einsatz bei dieser gleichgekommen.

Das LAG Niedersachsen wies die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des ArbG Emden zurück. Der Kläger könne sich nicht mit Erfolg auf § 10 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 9 Abs. 1 AÜG stützen. Nicht entscheidungserheblich sei dabei, ob der Kläger länger als 18 Monate bei der Beklagten eingegliedert und damit die zulässige Überlassungshöchstdauer des § 1 Abs. 1b AÜG überschritten worden sei. Die Beklagte könne das Konzernprivileg gem. § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG für sich in Anspruch nehmen, dessen Tatbestandsvoraussetzungen hiesig vorlägen.

Dabei könne ausdrücklich offen bleiben, ob das Konzernprivileg europarechtswidrig sei. Die Richtlinie 2008/104/EG über Zeitarbeit finde keine unmittelbare Anwendung. § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG sei vom Wortlaut und vom Sinn und Zweck, den der nationale Gesetzgeber mit dieser Vorschrift verbunden habe, klar und eindeutig; eine europarechtskonforme Auslegung, die dann eine solche contra legem wäre, sei unzulässig.

Ein nationales Gericht, das bei der Anwendung des nationalen Rechts dieses auszulegen habe, müsse sich dabei – soweit wie möglich – am Wortlaut und Zweck einer einschlägigen Richtlinie ausrichten, um das in dieser festgelegte Ergebnis zu erreichen und so Art. 238 Abs. 3 AEUV nachzukommen. Zur Erfüllung dieser Verpflichtung verlange der Grundsatz der unionskonformen Auslegung von den nationalen Behörden – unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden – alles zu tun, was in ihrer Zuständigkeit liege, um die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem Unionsrecht verfolgten Ziel in Einklang stehe. Ermögliche es das nationale Recht, durch die Anwendung seiner Auslegungsmethoden eine innerstaatliche Bestimmung so auszulegen, dass eine Kollision mit einer anderen Norm innerstaatlichen Rechts vermieden werde, seien die nationalen Gerichte gehalten, die gleichen Methoden anzuwenden, um das von der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen. Allerdings unterliege der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts Schranken. Die Pflicht zur Verwirklichung eines Richtlinienziels finde ihre Grenzen an dem nach innerstaatlicher Rechtstradition methodisch Erlaubten. Sie dürfe nicht als Grundlage für eine Auslegung des nationalen Rechts contra legem dienen. Der Gehalt einer nach Wortlaut, Systematik und Sinn eindeutigen Regelung könne nicht im Wege der richtlinienkonformen Auslegung in sein Gegenteil verkehrt werden.

Gemessen an diesen Vorgaben dürfe die Formulierung in § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG „nicht zum Zwecke der Überlassung eingestellt und beschäftigt“ nicht aus Gründen der Europarechtskonformität dahingehend ausgelegt werden, dass – unabhängig von den Bedingungen der Einstellung – jegliche Beschäftigung des in einem konzernangehörigen Unternehmen eingestellten Mitarbeiters als Zeitarbeitnehmer in einem weiteren konzernangehörigen Unternehmen eine Inanspruchnahme von § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG ausschließe. Bei einer solchen Auslegung bliebe für die Anwendung des Konzernprivilegs kein Raum; der Wille des nationalen Gesetzgebers würde völlig ignoriert. Deswegen werde auch die Auffassung des Klägers, eine europarechtskonforme Auslegung ließe sich dadurch erreichen, dass das Wort „und“ durch ein „oder“ ersetzt werde, nicht geteilt. Genau diese Formulierung führe zu dem Ergebnis, das jedwede Überlassung das Konzernprivileg leerlaufen ließe. Dies habe der nationale Gesetzgeber nicht gewollt. Im vorliegenden Streitfall sei die nationale Rechtsordnung stärker als das Europarecht.

Ein anderes Ergebnis folge nicht aus einer eventuell nicht vorhandenen bzw. unwirksamen Vereinbarung der Überlassung zwischen der X-GmbH und der Beklagten. Für die Anwendung des Konzernprivilegs sei eine besondere vertragliche Abrede keine Voraussetzung. Es genüge eine tatsächliche Übereinkunft zwischen den beteiligten Konzernunternehmen, die hiesig vorliege. Anderenfalls hätte der Kläger bei der Beklagten beginnend ab dem 13.08.2020 – unabhängig davon, zu welchen Bedingungen dies geschehe – nicht tätig werden können.

Auch das übrige Vorbringen des Klägers vermöge nach Ansicht des LAG Niedersachsen kein Arbeitsverhältnis zu der Beklagten zu begründen. Das Argument des Klägers, die X-GmbH sei nicht irgendeine Fremdfirma, sondern Teil der unternehmenseigenen Werksorganisation sei unerheblich; diese ändere nichts an der formalen Zuordnung Vertragsarbeitgeber/Kundenunternehmen.

Die Überschreitung der zunächst vorgesehenen Überlassungsdauer führe nicht zu einem Arbeitsverhältnis zu der Beklagten, da es im Rahmen des Konzernprivilegs keine dem § 15 Abs. 5 TzBfG entsprechende Vorschrift gebe.

Der tatsächliche Einsatz des Klägers (beginnend mit dem 13.08.2020) in dem Werk Emden der Beklagten begründe konkludent kein neues Arbeitsverhältnis. Zwar sei allgemein anerkannt, das Arbeitsverhältnisse durch die schlichte Arbeitsaufnahme entstehen könnten; es müssten vorliegend aber besonders strenge Anforderungen an den Erklärungswert einer tatsächlichen Eingliederung gestellt werden. Zulasten des Klägers sei insbesondere zu berücksichtigen, dass er bereits zu der X-GmbH in einem Arbeitsverhältnis gestanden habe. Es habe dem erkennbaren Willen der beteiligten Konzernunternehmen widersprochen, konkludent einen bestehenden Arbeitsvertrag ohne besondere Willenserklärungen zu beenden und ein neues Arbeitsverhältnis mit einem anderen Unternehmen zu begründen. In diesem Zusammenhang sei zudem zu beachten, dass dem Kläger die Zusammenhänge aufgrund des von ihm behaupteten Gespräches vor der erneuten Eingliederung bei der Beklagten klargeworden seien. Der Kläger habe gewusst, dass er im Wege einer Konzernüberlassung für die Beklagte tätig werden solle. Die Annahme eines konkludent neu begründeten Arbeitsverhältnisses sei – so das Gericht wörtlich – reichlich fernliegend.

II. Bewertung

Für den hiesigen Rechtsstreit war von maßgeblicher Bedeutung, ob das Konzernprivileg mit europarechtlichen Vorgaben aus der Zeitarbeitsrichtlinie in Einklang steht. Diese Frage ist – insoweit wenig überraschend – seit jeher umstritten. Stimmen in der Literatur lehnen dies – wohl überwiegend – ab (vgl. Deinert, ZESAR 2016, 112 f.; Hamann, ZESAR 2012, 109; Hirdina, NZA 2011, 327; Oberthür, ArbRB 2011, 147; Rieble/Vielmeier, EuZA 2011, 481; Sansone, Gleichstellung von Leiharbeitnehmern, 2011, 454; Ulber, AuR 2010, 11; Ulber, § 1 AÜG Rn. 413, 450 ff.; Wank, RdA 2010, 103; a.A. Ulrici, § 1 AÜG Rn. 23; Meyer, NZA 2013, 1327; Henssler/Grau/Sittard/Pant, § 3 Rn. 62 f. m.w.N.). Begründet wird dies im Wesentlichen damit, dass Art. 1 Abs. 2 der Zeitarbeitsrichtlinie eine entsprechende Bereichsausnahme nicht vorsehe. Ausnahmen vom Anwendungsbereich seien vielmehr ausschließlich unter den in Art. 1 Abs. 3 der Zeitarbeitsrichtlinie festgelegten engen Grenzen zulässig. Danach können die Mitgliedstaaten nach Anhörung der Sozialpartner vorsehen, dass diese Richtlinie nicht für Arbeitsverträge oder Beschäftigungsverhältnisse gilt, die im Rahmen eines spezifischen öffentlichen oder von öffentlichen Stellen geförderten beruflichen Ausbildungs-, Eingliederungs- und Umschulungsprogramms geschlossen wurden. Der Gesetzgeber begründet die Richtlinienkonformität hingegen damit, dass Arbeitnehmer, die nicht zum Zweck der Überlassung eingestellt und beschäftigt werden, vom Schutzbereich der Richtlinie gar nicht erst erfasst würden (vgl. BT-Drucksache 17/4804, S. 8).

Das LAG Niedersachsen hat die Frage, ob das Konzernprivileg europarechtswidrig ist, ausdrücklich offengelassen. Das Gericht hat vielmehr festgestellt, dass die Norm nicht europarechtskonform ausgelegt werden kann. Dies entspricht unter Berücksichtigung des Wortlautes und des Willens des Gesetzgebers der wohl herrschenden Meinung im Schrifttum (vgl. Schüren/Hamann, § 1 AÜG Rn. 634 ff.). Auch eine teleologische Reduktion von § 1 Abs. 2 Nr. 3 AÜG, nach der das Konzernprivileg nur die Erlaubnispflicht ausschließen soll, die übrigen Bestimmungen des AÜG aber zu beachten sind (so: Deinert, ZESAR 2016, 113), soll vor diesem Hintergrund ausscheiden (Schüren/ Hamann, § 1 AÜG Rn. 636). Der Katalog der anwendbaren Vorschriften des AÜG müsste folglich zum Zwecke der Herstellung der Richtlinienkonformität nach einen gesetzgeberischen Eingriff (de lege ferenda) um die nach der Zeitarbeitsrichtlinie zwingenden Bestimmungen erweitert werden; dies würde bedeuten, dass u.a. §§ 13a, 13b, 8, 9 Abs. 1 Nr. 2 AÜG zur Anwendung kommen müssten (vgl. Schüren/Hamann, § 1 AÜG Rn. 638). § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG würde nach einer entsprechenden gesetzgeberischen Korrektur im Wesentlichen nur noch von einer Erlaubnispflicht befreien, die in der Zeitarbeitsrichtlinie selbst nicht vorgesehen ist.

Nach einer Ansicht ist das Konzernprivileg aufgrund der Europarechtswidrigkeit insgesamt nicht anzuwenden (vgl. Ulrici, § 1 AÜG Rn. 22 mit entsprechenden Nachweisen). Das LAG Niedersachsen ist allerdings einen anderen Weg gegangen und hat § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG de lege lata uneingeschränkt beachtet. Zwar sind die Gerichte dem Grundsatz der europarechtskonformen Auslegung verpflichtet, nach dem nationale Vorschriften im Lichte europarechtlicher Vorgaben interpretiert werden müssen, um diese im Rahmen der nationalen Rechtsanwendung umzusetzen. Eine europarechtskonforme Auslegung ist allerdings ausgeschlossen, wenn die gesetzliche Bestimmung in diesem Sinne nicht auslegungsfähig ist, insbesondere weil der Wortlaut der Vorschrift und der gesetzgeberische Wille dem entgegenstehen. Gerichte dürfen sich in diesem Fall nicht als „Ersatzgesetzgeber“ gerieren und der Bestimmung einen anderen Sinn beimessen, als diese haben sollte. Die deutschen Gerichte für Arbeitssachen, bei denen – wie im hiesigen Fall – ein Rechtsstreit ausschließlich zwischen Privatpersonen anhängig ist, sind nicht allein aufgrund des Unionsrechts verpflichtet, eine unionsrechtswidrige Vorschrift unangewendet zu lassen, sondern müssen diese im Gegenteil weiterhin anwenden (vgl. zuletzt: BAG v. 24.05.2022 – 9 AZR 337/21 auf Grundlage von EuGH v. 17.03.2022 – C-232/20 zur europarechtswidrigen Übergangsvorschrift nach § 19 Abs. 2 AÜG) – so wie es das LAG Niedersachsen in letzter Konsequenz getan hat, allerdings ohne eine vorherige Vorlage an den EuGH.

Nicht überzeugend sind allerdings die Ausführungen des LAG Niedersachsen, nach denen das Wort „und“ nicht als ein „oder“ (im Tatbestand von § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG: „nicht zum Zwecke der Überlassung eingestellt und beschäftigt“) ausgelegt werden könne. Die ganz herrschende Ansicht (vgl. LAG Baden-Württemberg v. 11.02.2016 – 3 TaBV 2/21; Lembke, BB 2012, 2499; Schüren/Hamann, § 1 AÜG 615; Tschöpe/Bissels, Teil 6 D Rn. 62) versteht hingegen das Wort „und“ als ein „oder“, da ansonsten eine missbräuchliche Anwendung des Konzernprivilegs und damit eine Umgehung von Arbeitnehmerschutzvorschriften nicht ausgeschlossen werden könnte – nämlich für den Fall, dass ein Arbeitsvertrag mit einem Arbeitnehmer geschlossen wird, der einen Einsatz als Zeitarbeitnehmer nicht vorsieht (dieser würde folglich nicht zum Zwecke der Überlassung eingestellt), aber im Nachhinein ein Änderungsvertrag (möglicherweise eine juristische Sekunde nach dem „Hauptarbeitsvertrag“) vereinbart wird, der eine ausschließliche oder zumindest überwiegende Beschäftigung im Rahmen einer Überlassung gerade festlegt. In diesen Konstellationen wäre der Anwendungsbereich des Konzernprivilegs bei einer Verknüpfung durch ein „und“ eröffnet, da der Mitarbeiter zumindest nicht zum Zwecke der Überlassung eingestellt worden ist. Die Richtigkeit dieser Erwägung ergibt sich aus folgendem Umstand: In der im Referentenentwurf vom 02.09.2010 geplanten Gesetzesfassung zur Anpassung von § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG erfasste das Konzernprivileg noch die konzerninterne Überlassung von Arbeitnehmern, die  „nicht zum Zwecke der Überlassung eingestellt“ werden. Danach kam es auf den Zeitpunkt der Einstellung an, sodass Umgehungsmöglichkeiten zu einem späteren Zeitpunkt eröffnet waren (s. dazu oben). Mit der aktuellen Fassung des § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG wollte der Gesetzgeber sicherstellen, dass es nicht allein auf den bei Abschluss des Arbeitsvertrags festgelegten Leistungsinhalt, sondern auch darauf ankommt, dass der Arbeitnehmer nicht später zum Zweck der Überlassung beschäftigt wird. Dies ergibt sich ausdrücklich aus der Gesetzesbegründung (BT-Drucksache 17/4804, S. 8).

Anders als das LAG Niedersachsen meint, hätte das Konzernprivileg bei einer Auslegung des Wortes „und“ als ein „oder“ sehr wohl noch einen Anwendungsbereich. Nicht jede Beschäftigung eines Arbeitnehmers im Rahmen einer Überlassung im Konzern führt automatisch dazu, dass das Privileg des § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG nicht mehr einschlägig ist. Die insoweit zu beachtenden quantitativen und qualitativen Kriterien, ab wann eine „Beschäftigung“ zum Zwecke der Überlassung erfolgt, sind streitig (vgl. dazu den Überblick bei: Schüren/Hamann, § 1 AÜG Rn. 617 ff.; Henssler/Grau/Sittard/Pant, § 3 Rn. 70 ff. m.w.N.; Urban-Crell/Germakowski/Bissels, § 1 AÜG Rn. 347 ff.).

Letztlich lehnt das LAG Niedersachsen – ausgehend davon, dass § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG angewendet werden muss – dann zu Recht die Entstehung eines Arbeitsverhältnisses mit der Beklagten ab. Daran vermag der Umstand nichts ändern, dass zwischen der X-GmbH und der Beklagten (möglicherweise) keine wirksame Vereinbarung (mehr) über die Überlassung des Klägers bestanden haben soll. Eine solche ist nämlich – wie das Gericht feststellt – keine tatbestandliche Voraussetzung von § 1 Abs. 2 Nr. 3 AÜG. Die Überschreitung der vorgesehenen Überlassungsdauer begründet kein Arbeitsverhältnis; § 15 Abs. 5 TzBfG ist nicht – auch nicht analog – anwendbar, da vorliegend kein befristetes Arbeitsverhältnis über die ursprünglich vereinbarte Befristung hinaus fortgesetzt worden ist. Gleiches gilt für §§ 9 Abs. 1, 10 Abs. 1 AÜG; diese Vorschriften sind nach § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG nicht zu beachten. Auch die konkludente Begründung eines Arbeitsverhältnisses ist – wie es das LAG Niedersachsen korrekt bezeichnet – auf Grundlage des Vorbringens des Klägers fernliegend.

Im Ergebnis kann aus der Entscheidung des LAG Niedersachsen abgeleitet werden, dass eine Konzernüberlassung – wie bisher – zunächst weiter fortgeführt werden kann; eine solche sollte aber in der Praxis aufgrund bestehender Rechtsrisiken eher restriktiv genutzt werden. Denn inzwischen ist Revision gegen beide Urteile zum BAG eingelegt worden (Az. 9 AZR 110/23, 9 AZR 111/23), die das LAG Niedersachsen gem. § 72 Abs. 2 ArbGG wegen einer grundsätzlicher Bedeutung zugelassen hat, insbesondere wegen der europarechtlichen Problematik des Konzernprivilegs. Es bleibt spannend, ob der 9. Senat die Auffassung des LAG Niedersachsen bestätigt oder, was nicht unwahrscheinlich ist, den EuGH im Rahmen eines Vorlageverfahrens nach Art. 267 AEUV involvieren wird – die weitere Entwicklung sollte daher sorgsam beobachtet werden, gerade wenn von Unternehmen gegenwärtig eine (erlaubnisfreie) Konzernüberlassung betrieben wird.

Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass sich das BAG bereits mit einem anderen in § 1 Abs. 3 AÜG vorgesehenen Ausnahmetatbestand hat befassen müssen, nämlich – kurz gesprochen – mit der im öffentlichen Dienst verbreiteten Personalgestellung nach § 1 Abs. 3 Nr. 2b AÜG. Der 6. Senat hat den EuGH angerufen, um zu klären, ob eine Personalgestellung nach § 4 Abs. 3 TVöD unter den Anwendungsbereich der Zeitarbeitsrichtlinie fällt (vgl. BAG v. 16.06.2021 – 6 AZR 390/20 (A); Az. beim EuGH: C-427/21; soweit bekannt, ist in diesem Verfahren noch kein Termin anberaumt worden). Bejahendenfalls soll geklärt werden, ob diese eine Bereichsausnahme – wie in § 1 Abs. 3 Nr. 2b AÜG geregelt – zulässt. Möglicherweise lassen sich aus einer Entscheidung des EuGH auch Ableitungen zur Europarechtskonformität oder -widrigkeit der übrigen in § 1 Abs. 3 AÜG aufgeführten Tatbestände, insbesondere für die Konzernüberlassung, ziehen. In diesem Zusammenhang muss jedoch das Urteil des EuGH abgewartet werden. Prognosen über den Ausgang sind schwierig; dies gilt erst recht für daraus erst noch herzuleitende Konsequenzen für eine Konzernüberlassung, da die Personalgestellung in der Tat einige Besonderheiten aufweist, die bei § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG gerade nicht relevant sind. Dies gilt insbesondere für den mit der Personalgestellung verfolgten Zweck des Bestandsschutzes des Arbeitsverhältnisses aufgrund des Wegfalls von Arbeitsplätzen nach der Verlagerung von Arbeitsplätzen auf einen Dritten, an den das Personal schließlich von dem Vertragsarbeitgeber gestellt werden soll, und für die Dauerhaftigkeit des Einsatzes bei dem Dritten.

Fest steht damit zumindest, dass es im Recht der Arbeitnehmerüberlassung bis auf Weiteres (bedauerlicherweise!) nicht langweilig werden dürfte.

Dieser Beitrag ist an einen Artikel in der April-Ausgabe des „Infobriefs Zeitarbeit“ angelehnt, in dem wir jeden Monat über aktuelle Entwicklungen in Zusammenhang mit dem Einsatz von Fremdpersonal informieren.

Dr. Alexander Bissels, Partner,
und Dr. Jonas Singraven, Senior Associate,
Rechtsanwälte und Fachanwälte für Arbeitsrecht,
CMS Hasche Sigle, Köln